Am 29.9.2015 hat die Bundesregierung den „Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtssicherheit bei Anfechtungen nach der Insolvenzordnung und nach dem Anfechtungsgesetz“ beschlossen. Diesem Entwurf vorangegangen war der am 16.3.2015 veröffentlichte Referentenentwurf, zu dem ich mich in meinem Blog-Beitrag vom 1. April geäußert habe.
Weiterhin erklärter Zweck der geplanten Reform des Insolvenzanfechtungsrechts ist, „den Wirtschaftsverkehr sowie Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von Rechtsunsicherheiten zu entlasten, die von der derzeitigen Praxis des Insolvenzanfechtungsrechts ausgehen“.
Gemeint sind damit diejenigen Rechtsunsicherheiten, für die der Bundesgerichtshof seit etwa 2006 sorgt, indem er es Insolvenzverwaltern v.a. durch seine Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung (§ 133 InsO) ermöglicht, selbst viele Jahre zurückliegende Leistungen auf vollkommen reguläre vertragliche oder gesetzliche Verbindlichkeiten vom Empfänger zurückzufordern, wenn der Schuldner zum Zeitpunkt der Leistung bekanntermaßen (drohend) zahlungsunfähig war.
Die in § 133 InsO geregelte Vorsatzanfechtung geht über die frühere Absichtsanfechtung nach § 31 der Konkursordnung zurück auf die actio Pauliana des römischen Rechts. Die Ursprünge der Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung reichen daher bis etwa in das 3. Jahrhundert n. Chr. zurück.
Rund 1.700 Jahre lang konnten mit diesem Rechtsbehelf allerdings nur unredliche Vermögensverschiebungen rückgängig gemacht werden, die von einem Schuldner in der Absicht vorgenommen worden waren, bestimmte Vermögensgegenstände dem Vollstreckungszugriff seiner Gläubiger zu entziehen und so die Haftung für seine Schulden zu unterlaufen.
Zentrale Voraussetzung der Vorsatz- bzw. Absichtsanfechtung war immer, daß sich der Schuldner gegenüber seinen Gläubigern unredlich verhalten hatte. Wer als Gläubiger nur das erhalten hatte, worauf er eine regulären vertraglichen oder gesetzlichen Anspruch gehabt hatte, war von der actio Pauliana selbst dann nicht betroffen, wenn er bei Erhalt der Leistung genau wußte, daß sein Schuldner zahlungsunfähig war.
Das ist in D. 42,8,6 (7) deutlich ausgesprochen:
Sciendum Iulianum scribere eoque iure nos uti, ut, qui debitam pecuniam recepit ante, quam bona debitoris possideantur, quamvis sciens prudensque solvendo non esse recipiat, non timere hoc edictum: sibi enim vigilavit.
Der unbefangene Leser des Gesetzestexts wird auch dem geltenden § 133 Abs. 1 InsO entnehmen, daß es bei der Anfechtung wegen vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung um unredliche Vermögensverschiebungen geht: Nach § 133 Abs. 1 InsO ist eine Rechtshandlung anfechtbar, „die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte“.
Bis vor knapp zehn Jahren, d.h. bis zum Urteil vom 13. April 2006 (Az. IX ZR 158/05), wurde die Vorschrift auch vom Bundesgerichtshof noch so ausgelegt, – wenn auch unklar war, was genau als unredlich anzusehen sein sollte. Dann erklärte er das Erfordernis der Unredlichkeit für obsolet.
Seit diesem Urteil wird der nach dem Gesetzeswortlaut erforderliche Benachteiligungsvorsatz des Schuldners in der Regel schon dann bejaht, wenn der Schuldner eine Rechtshandlung nur in dem Bewußtsein vorgenommen hat, (drohend) zahlungsunfähig zu sein: Wer als Schuldner wisse, daß er nicht mehr alle seine Schulden bezahlen kann, handle in der Regel mit Benachteiligungsvorsatz, wenn er die Forderung eines Gläubigers bezahlt.
Die nach dem Gesetzeswortlaut zusätzlich erforderliche Kenntnis des Anfechtungsgegners vom Benachteiligungsvorsatz des Schuldners läßt sich auf dieser Basis ebensoleicht bejahen: Wer als Gläubiger ebenfalls wisse, daß der Schuldner weiß, daß er nicht mehr alle seine Schulden bezahlen kann, der kenne auch dessen Benachteiligungsvorsatz.
Im rechtspraktischen Ergebnis hat der Bundesgerichtshof damit den Benachteiligungsvorsatz als Anfechtungsvoraussetzung abgeschafft. Als einzige echte Voraussetzung für die Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung nach § 133 Abs. 1 InsO ist die Kenntnis des Anfechtungsgegners von der (drohenden) Zahlungsunfähigkeit seines Schuldners geblieben.
Seit diesem Urteil des Bundesgerichtshofs erheben Insolvenzverwalter landauf landab massenhaft Anfechtungsklagen ausgerechnet gegen diejenigen, die die Vorsatzanfechtung eigentlich schützen soll: gegen Lieferanten, Kreditgeber, Krankenkassen, Finanzämter, Arbeitnehmer usw.
Wer sich zum ersten Mal einer Anfechtungsklage wegen angeblich vorsätzlicher Gläubigerbenachteiligung ausgesetzt sieht, obwohl er vom Schuldner nicht mehr als das erhalten hat, worauf er einen fälligen vertraglichen Anspruch hatte, wähnt sich im Gerichtssaal Hütchenspielern gegenüber.
Eine Begründung für den Bruch mit dem bis zu dem Urteil vom 13.4.2006 seit mehr als anderthalb Jahrtausenden geltenden Recht hat der Bundesgerichtshof bis heute nicht geliefert; siehe dazu: Foerste, Die Ausdehnung der Vorsatzanfechtung – ein rechtsstaatliches Problem, in: ZInsO 2013, S. 897 (898).
Eine tragfähige rechtstheoretische Begründung dafür kann es auch nicht geben. Tatsächlich ist die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 133 Abs. 1 InsO nur ein Trick, mit dem geschickt verschleiert wird, daß sich das Gericht über das Gesetz hinwegsetzt:
§ 133 Abs. 1 InsO ist nicht der einzige Anfechtungstatbestand. Für die Anfechtung von Sicherungen und Befriedigungen (sog. Deckungen), die jemand erhalten oder erlangt hat, der Insolvenzgläubiger wäre, wenn bereits ein Insolvenzverfahren über das Vermögen seines Schuldners eröffnet gewesen wäre, enthält die Insolvenzordnung in den §§ 130, 131 InsO spezielle Anfechtungstatbestände. Die Anfechtung nach den §§ 130, 131 InsO betrifft nicht unredliche Vermögensverschiebungen, sondern die Begünstigung einzelner Gläubiger des bereits zahlungsunfähigen Schuldners. Es geht um die Durchsetzung der Gläubigergleichbehandlung: Ist der Schuldner zahlungsunfähig, haben alle (ungesicherten) Gläubiger nur noch einen Anspruch auf gleichmäßige Befriedigung. Es darf dann nicht der Zufall, ein besonderer Informationsvorsprung oder Sympathie darüber entscheiden, welcher Gläubiger Geld erhält und welcher leer ausgeht. Das ist die Legitimationsgrundlage für die in den §§ 130, 131 InsO geregelte besondere Insolvenzanfechtung. Um einen Benachteiligungsvorsatz geht es in diesen Vorschriften nicht.
Das Problem für den BGH ist nur, daß der Gesetzgeber für (kongruente und inkongruente) Deckungen eine Anfechtungsfrist von maximal drei Monaten bestimmt hat. Leistungen, die länger als drei Monate vor Insolvenzantragstellung erfolgt sind, können nach den §§ 130, 131 InsO nicht angefochten werden.
Für vorsätzliche Gläubigerbenachteiligungen gilt demgegenüber eine Anfechtungsfrist von zehn Jahren.
Um diese erheblich längere Anfechtungsfrist auch auf (kongruente und inkongruente) Deckungen anwenden zu können, die ganz normale Gläubiger erhalten, mußte der Bundesgerichtshof einen Weg finden, auch Sicherungen und Befriedigungen zu vorsätzlichen Gläubigerbenachteiligungen erklären zu können.
Um zu erkennen, daß die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 133 Abs. 1 InsO bloß ein Trick ist, damit er nicht offen aussprechen muß, daß er sich um die in den §§ 130, 131 InsO gesetzlich bestimmten kurzen Anfechtungsfristen nicht schert, muß man nur der Frage nachgehen, was § 133 Abs. 1 InsO nach der Rechtsprechung des BGH noch von § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO unterscheidet: Nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist eine (innerhalb von drei Monaten vor dem Insolvenzantrag erfolgte) kongruente Deckung anfechtbar, wenn der begünstigte Gläubiger wußte, daß sein Schuldner zahlungsunfähig ist. Gemäß der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verlangt der von § 133 Abs. 1 InsO vorausgesetzte Benachteiligungsvorsatz des Schuldners in der Regel nicht mehr, als daß der Schuldner seine eigene Zahlungsunfähigkeit kannte. Das bedeutet praktisch, daß sich die Anfechtungsfrist für eine kongruente Deckung von drei Monaten auf zehn Jahre verlängert, wenn nicht nur der begünstigte Gläubiger die wirtschaftliche Lage seines Schuldners kannte, sondern auch dieser selbst über seine Zahlungsunfähigkeit im Bilde war.
Es wird selten vorkommen, daß ein Fremder über die eigene wirtschaftliche Situation besser Bescheid weiß. Es ist deshalb kaum vorstellbar, daß der Gesetzgeber nur für den äußerst seltenen Fall, daß nur der Gläubiger die Zahlungsunfähigkeit seines Schuldners kannte, die kurze Anfechtungsfrist des § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO vorgesehen hat. Es ist kaum vorstellbar, daß § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO nach dem Willen des Gesetzgebers neben § 133 Abs. 1 InsO praktisch keinen eigenständigen Anwendungsbereich hat. Jedenfalls aber kann der Umstand, daß auch der Schuldner seine eigene Zahlungsunfähigkeit kannte, als er eine Rechnung beglich, keine Legitimation dafür sein, die Anfechtungsfrist zu vervierzigfachen!
Alle Rechtsunsicherheiten, die der Bundesregierung ausweislich der Entwurfsbegründung Anlaß für die geplante Reform der Insolvenzanfechtung sind, beruhen darauf, daß der Bundesgerichtshof die Vorsatzanfechtung in Abkehr von der mehr als anderthalbtausendjährigen Rechtsgeschichte auch auf Leistungen an normale Gläubiger anwendet, nur um sich nicht offen über die gesetzlich festgelegten kurzen Anfechtungsfristen der 130, 131 InsO hinwegzusetzen.
Wenn der Gesetzgeber diese Rechtsunsicherheiten beseitigen will, muß er dieser Rechtsprechung ein Ende bereiten. Er muß dann klarstellen, daß § 133 Abs. 1 InsO nur auf unlautere Vermögensverschiebungen Anwendung findet.
Wenn er der Auffassung ist, daß eine Anfechtungsfrist von 4 Jahren für kongruente und inkongruente Deckungen angemessen ist, wie in dem Gesetzentwurf vorgesehen, muß er die Anfechtungsfristen in 130, 131 InsO verlängern, nicht Sonderregeln in § 133 InsO einführen. Es ist gesetzessystematisch völlig verfehlt, die vom Bundesgerichtshof vorgenommene Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Vorsatzanfechtung auch noch für richtig zu erklären, indem § 133 InsO um folgende zwei Absätze ergänzt wird:
(2) Hat die Rechtshandlung dem anderen Teil eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht, beträgt der Zeitraum nach Absatz 1 Satz 1 vier Jahre.
(3) Hat die Rechtshandlung dem anderen Teil eine Sicherung oder Befriedigung gewährt oder ermöglicht, welche dieser in der Art und zu der Zeit zu beanspruchen hatte, tritt an die Stelle der drohenden Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nach Absatz 1 Satz 2 die eingetretene. Hatte der andere Teil mit dem Schuldner eine Zahlungsvereinbarung getroffen oder diesem in sonstiger Weise eine Zahlungserleicherung gewährt, wird vermutet, dass er zur Zeit der Handlung die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht kannte.
[Mittwoch, 14. Oktober 2015]