Begleicht ein zahlungsunfähiger Schuldner reguläre, fällige Verbindlichkeiten, sind die Zahlungen im Insolvenzverfahren über dessen Vermögen als sog. „kongruente Deckungen“ nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar, – wenn die Zahlung innerhalb einer Frist von drei Monaten vor Insolvenzantragstellung erfolgt und wenn der Gläubiger Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit hat.
Mit der sog. besonderen Insolvenzanfechtung wird der Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung auf einen Zeitpunkt vor Insolvenzantragstellung vorverlagert, als der Schuldner bereits materiell insolvent war.
Die in den §§ 130, 131 InsO bestimmte verhältnismäßig kurze Anfechtungsfrist von drei Monaten täuschte allerdings über die tatsächliche Rechtslage hinweg. Der Bundesgerichtshof (BGH) legte den Tatbestand der Vorsatzanfechtung (§ 133 InsO) nämlich in einer Weise aus, daß für die Anfechtung von Zahlungen auf reguläre, fällige Verbindlichkeiten nach dieser Vorschrift praktisch keine anderen Voraussetzungen erfüllt sein mußten als für die Anfechtung nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO. Es mußte lediglich auch der Schuldner selbst gewußt haben, daß er zahlungsunfähig war, während die Anfechtung nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO nur die Kenntnis des Gläubigers von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners voraussetzt.
Für eine Anfechtung wegen kongruenter Deckung nach § 130 Abs. 1 Nr. 1 InsO gilt eine Anfechtungsfrist von maximal 3 Monaten, während der Tatbestand des § 133 InsO eine solche von jedenfalls 4 Jahren enthält.
Über die eigenen finanziellen Verhältnisse pflegt man besser unterrichtet zu sein als über die Fremder. Wenn vom BGH für die Vorsatzanfechtung nur zusätzlich verlangt wurde, daß der Schuldner selbst wußte, was sogar schon sein Gläubiger wußte, nämlich daß er zahlungsunfähig war, dann bedeutete dies, daß die Anfechtung nach § 133 InsO von praktisch keinen anderen Voraussetzungen abhing als die Anfechtung nach § 130 Abs 1 Nr. 1 InsO. Allein das konnte aber nicht eine Verlängerung der Anfechtungsfrist um mehrere Jahre rechtfertigen.
Mit BGH-Urteil vom 6.5.2021 ist Bewegung in diese sehr anfechtungsfreundliche, seit langem (auch von mir) kritisierte Rechtsprechung gekommen. Der BGH hat sich von der Kritik, daß seine Rechtsprechung u.a. nicht mit der Gesetzessystematik vereinbar sei, jetzt überzeugen lassen. In dem Urteil vom 6.5.2021 heißt es u.a.:
„Der Schluss von der erkannten Zahlungsunfähigkeit auf die subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung führt im Falle der Gewährung kongruenter Deckungen zu einem weitgehenden Gleichlauf mit den Voraussetzungen der Deckungsanfechtung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO und damit faktisch zu einer Verlängerung des nach dieser Vorschrift maßgeblichen Anfechtungszeitraums von drei Monaten auf zehn Jahre nach altem Recht (§ 133 Abs. 1 Satz 1 InsO aF) und auf vier Jahre nach neuem Recht (§ 133 Abs. 1 Satz1, Abs. 2 InsO). Das stößt nicht nur auf gesetzessystematische Bedenken. Auch ein entsprechender Wille des Gesetzgebers erscheint zweifelhaft. Die Regelung des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO beruht auf dem Gedanken, dass ein Gläubiger, der eine kongruente Deckung erhalten hat, grundsätzlich darauf vertrauen können soll, die ihm zustehende Leistung behalten zu dürfen. Dieses Vertrauen soll zwar dann keinen Schutz verdienen, wenn der Gläubiger wusste, dass die Krise eingetreten war. Das Risiko, dass er die empfangene Leistung zur Insolvenzmasse zurückgewähren muss, soll der Gläubiger indes auch in diesem Fall im Grundsatz nur dann tragen, wenn das Insolvenzverfahren innerhalb einer begrenzten Zeit nach Erhalt der Leistung eröffnet wird (vgl. BT- Drucks. 12/2443, S. 158). Dieses Ansinnen wird verfehlt, wenn man die Anfechtung einer kongruenten Deckung nach § 133 Abs. 1 InsO schon dann für möglich hält, wenn der Schuldner erkanntermaßen zahlungsunfähig war.“
Der BGH ist in dem Urteil jedoch leider nicht konsequent, sondern läßt die Kenntnis von einer bestehenden Zahlungsunfähigkeit für die Annahme eines Benachteiligungsvorsatzes immerhin dann genügen, wenn die Zahlungsunfähigkeit ein besonders großes Ausmaß angenommen hatte:
„Ist der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung erkanntermaßen zahlungsunfähig, kommt es zusätzlich darauf an, ob er wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine anderen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die im Moment der angefochtenen Rechtshandlung bestehende Deckungslücke zwischen dem liquiden Vermögen des Schuldners und seinen Verbindlichkeiten. Hatte die Deckungslücke ein Ausmaß erreicht, das selbst bei optimistischer Einschätzung der zukünftigen Entwicklung in absehbarer Zeit keine vollständige Befriedigung der bereits vorhandenen und der absehbar hinzutretenden Gläubiger (vgl. BGH, Urteil vom 12. Oktober 2017 - IX ZR 50/15, WM 2017, 2322 Rn. 19) erwarten ließ, musste dem Schuldner klar sein, dass er nicht einzelne Gläubiger befriedigen konnte, ohne andere zu benachteiligen. Befriedigt er in dieser Lage einzelne Gläubiger, handelt er deshalb mit Gläubigerbenachteiligungsvorsatz. Der Anfechtungsgegner weiß um diesen Vorsatz, wenn er die zu dessen Annahme führenden Umstände kennt.“
(Die mit dem Urteil vom 6.5.2021 begründete neue Rechtsprechung wurde vom BGH u.a. in einem weiteren Revisionsurteil vom 28.4.2022, Az. IX ZR 48/21, bestätigt, das den Fall einer Mandantin von mir zum Gegenstand hatte. Nach Zurückverweisung an das OLG wurde die Klage des Insolvenzverwalters jetzt vollständig abgewiesen.)
Daß die neue BGH-Rechtsprechung nicht konsequent ist, zeigt sich in der Anwendung der in § 133 Abs. 1 S. 2 (i.V.m. Abs. 3 S. 1) InsO geregelten Vermutungsregelung:
Voraussetzung für die Anfechtung wegen vorsätzlicher Benachteiligung ist nicht nur ein Benachteiligungsvorsatz des Schuldners, sondern auch, daß der Gläubiger von diesem Vorsatz Kenntnis hatte. Wird der Vorsatz des Schuldners daraus abgeleitet, daß diesem seine besonders ausgeprägte Zahlungsunfähigkeit bekannt war, muß folglich auch der Anfechtungsgegner davon gewußt haben, daß keine Aussichten mehr bestanden, daß der Schuldner seine Zahlungsunfähigkeit in Zukunft wiedererlangen wird. Leitsatz c) des Urteils vom 6.5.2021 lautet entsprechend:
„Für den Vollbeweis der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners muss der Anfechtungsgegner im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im maßgeblichen Zeitpunkt zusätzlich wissen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen.“
Nun enthält § 133 Abs. 1 S. 2 InsO allerdings eine gesetztliche Vermutung: „Diese Kenntnis wird vermutet, wenn der andere Teil wußte, daß die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und daß die Handlung die Gläubiger benachteiligte.“ Für sog. „kongruente Deckungen“ ist in § 133 Abs. 3 S. 1 InsO geregelt, daß für die Vermutung erforderlich ist, daß der Anfechtungsgegner von einer bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit des Schuldners Kenntnis hatte.
Die Frage ist deshalb, ob nach § 133 Abs. 1 S. 2, Abs. 3 S. 1 InsO von einem Anfechtungsgegner, der lediglich von einer einfachen Zahlungsunfähigkeit seines Schuldner Kenntnis hatte, gesetzlich vermutet wird, daß er darüber hinaus auch wußte, daß der Schuldner „seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können“.
Wäre das der Sinn der gesetzlichen Vermutung, würde sie den Gesetzen der Logik Gewalt antun: Wenn der Anfechtungsgegner bewiesenermaßen nicht wußte, daß der Schuldner „seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können“, kann nicht gesetzlich vermutet werden, daß er es doch wußte.
Es handelte sich dann entgegen dem Gesetzeswortlaut auch nicht um eine widerlegliche, sondern um eine unwiderlegliche Vermutung: Der Anfechtungsgegner könnte die Vermutung, daß er wußte, daß der Schuldner „seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können“, nicht durch den Beweis widerlegen, daß er es nicht wußte.
Den BGH ficht das bislang nicht an. In seinem Beschluß vom 12.1.2023, IX ZR 71/22, stellt er apodiktisch fest:
„Für die gesetzliche Vermutung der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners [§ 133 Abs. 1 S. 2 InsO] muss der Anfechtungsgegner nicht wissen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können.“
Die Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 S. 2 InsO hat nur dann einen Sinn, wenn der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz Schuldners, dessen Kenntnis nach der Vorschrift zu vermuten sein soll, etwas anders ist als die Kenntnis von der eigenen Zahlungsunfähigkeit, welches Ausmaß diese auch immer angenommen haben mag.
Das habe ich in meinem 2013 in der Neuen Zeitschrift für Insolvenzrecht (NZI) veröffentlichten Aufsatz „‚Stufenverhältnis‘ zwischen §§ 130, 131 InsO und §·133 InsO?“ (NZI 2013, 471), ausführlicher aber auch schon in meiner 2007 veröffentlichten Dissertation begründet.